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von Oliver Gassner
"Ich mach mal den Bildschirm an, damit Sie auch etwas sehen." Winfried Specht braucht den Bildschirm zum Surfen im Internet nicht, denn er ist blind. Er orientiert sich mit einem Sprachausgabeprogramm, einem sogenannten Screen-Reader. Unten an der Tastatur liegt die "Braille-Zeile", die den am Bildschirm dargestellten Text in 8-Punkt-Blindenschrift darstellt. Die Erhebungen und Lücken der tastbaren Schrift entstehen durch elektronisch gesteuerte Stifte, die sich in Sekundenbruchteilen heben und senken können.
Vor Allem für Gehörlose, Blinde und Sehbehinderte soll sich nach dem Willen der Bundesregierung im Internet einiges zum Besseren ändern: Die neue "Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung" schreibt vor, dass Internet-Angebote von Bundesbehörden auch für Behinderte gut zugänglich sein müssen. Wenn sie speziell auf Behinderte zugeschnittene Informationen enthalten bis Dezember 2003, der Rest hat Zeit bis Dezember 2005. Eine Verbesserung ist auch nötig, denn nicht wenige Informationen im Netz sind zwar "für das Auge" informativ aufgearbeitet, doch gerade Grafiken sind für Blinde nicht nutzbar. Von einem Online-Film mit Erläuterungen hat ein Gehörloser nur etwas, wenn die Tonspur auch als Untertitel zur Verfügung steht.
Winfried Specht möchte mal wieder zum Jazz gehen. Gerade bei Veranstaltungshinweisen sind Blinde auf das Internet angewiesen. Er versucht es mit der Webseite der "Stuttgarter Zeitung". Der Screenreader hilft bei der Orientierung; eine wertvolle Hilfe ist der weit oben an der Seite angebrachte Suchkasten. Da steht schon die Liste auf dem Bildschirm: "Tabelle, neun Spalten, 25 Zeilen.", verkündet der elektronische Vorleser. Winfried Specht verwirrt das nicht: Bald hat er einen Club um die Ecke gefunden, in dem an diesem Abend Jazz geboten wird.
Blinde Surfer springen auf Webseiten in der Regel von Link zu Link und ignorieren zunächst, was sonst noch auf der Seite steht. Treffen sie auf Verwirrendes oder Interessantes, so überprüfen sie auf der Braille-Zeile, was im Umfeld des Links steht. Manchmal sabotieren die Webseiten-Gestalter unbewusst diese Arbeitsweise: "Bitte klicken Sie HIER" steht dann nichtssagend im Linktext. Links mit sinnvollen Namen wie "Inhalt" oder "Adresse" oder "nähere Informationen zur Firma" ermöglichen Blinden wie Sehenden eine bessere Orientierung.
Ein zweiter Surf-Test: Worum ging es beim letzten Behördengang von Winfried Specht? Eine Ummeldung im Einwohnermeldeamt. Also zu http://www.stuttgart.de. "Neun Frames, 63 Links" kommentiert die Roboterstimme als Winfried Specht die Homepage der Stadt aufruft. Was auf dem Bildschirm für den Sehenden aus einem Guss wirkt, ist aus mehreren Unterfenstern ("Frames") zusammengesetzt, durch die sich der Nicht-Sehende durchfinden muss. Also: In die Suchbox "Einwohnermeldeamt" eingeben, kein Treffer. Vorhanden ist eine Behördenliste ? mit über 200 Links. Winfried Specht ist versiert: Kaum hört er die ersten Silben einer Zeile, schon springt er weiter: Kein Einwohnermeldeamt. Meldebehörde? Fehlanzeige. Auch ein Sehender hätte wohl jetzt aufgegeben.
Die Website von Karlsruhe hat eine übersichtliche Textversion. Nach fünf Klicks ist Winfried Specht beim Bürgerservice und damit beim Einwohnermeldeamt: Adresse, Öffnungszeiten, Telefonnummer, E-Mail-Adresse, all das gibt die Webseite her. Ein klarer Punkt für Behindertenfreundlicheit geht an Karlsruhe. Der Stuttgarter Website hätte die gesuchten Informationen durchaus geboten, aber die Übersichtlichkeit fehlte. Im virtuellen Bürgerbüro liegt sogar ein elektronisches Melde-Formular im PDF-Format aus; nur leider kann das nicht jeder Screenreader verarbeiten, sonst könnte das Formular jetzt am Bildschirm ausgefüllt werden. Wäre es ein normales Textdokument, könnte der Blinde es in jedem Textverarbeitungsprogramm ausfüllen.
Technische Vorgaben, wie Barrierefreiheit auszusehen hätte, macht die Verordnung keine, man strebt aber an, dass die Vorgaben des World Wide Web Consortiums (W3C) umgesetzt werden. Dort wird beispielsweise vorgeschlagen, jedes Grafikelement einer Webseite mit einem Erläuterungstext zu versehen oder für tabellarisch angeordnete Texte eine Alternativersion in fortlaufendem Text anzubieten. Mit solchen technischen Vorgaben allein ist es aber nicht getan, denn vor allem eine sinnvolle Gestaltung von Navigation und Links erwiesen sich in den oben beschriebenen Tests als Hauptproblem. Im baden-württembergischen Sozialministerium ist ein Landesbehindertengleichstellungsgesetz in Arbeit. Wie hoch die Kosten dafür werden lässt sich erst abschätzen, wenn entschieden ist ob die neue Regelung nur für neue Webseiten oder auch für den großen Bestand gelten wird - sträflich ist, dass man daran nicht gleich gedacht hat.
Nur wenige Web-Dienstleister sind schon auf die neuen Anforderungen eingestellt. Für Hans Rehklau war es besonders wichtig, dass seine Webseite für Behinderte nutzbar ist, denn seine Firma "Inducare" in Zuffenhausen vermittelt Industrieaufträge an Behindertenwerkstätten. Der Webauftritt der Firma wurde nicht nach technischen Vorgaben auf Behindertentauglichkeit überprüft, sondern ein blinder Mitarbeiter hat sie getestet. Für das Design der Seiten war die Stuttgarter Webdesignfirma Vitango verantwortlich. "Kürzlich hatte ich sogar einen Anruf von der bekannten Web-Agentur Pixelpark in Berlin. Die wollten wissen, wie barrierefreies Webdesign geht.", wundert sich Klaus Seeberger von Vitango.
Links zum Thema: http://www.carpe.com/wiki/wiki.pl?Barreierfreies_Internet
Bildtexte:
Foto Winfried Specht: An sich wäre der Bildschirm überflüssig: Sprachausgabe und Braille-Zeile gehören zur Standardausstattung eines Blinden-PCs. Auch das Surfen im World Wide Web ist damit möglich. Aber nicht ohne Tücken.
Foto Alexander Vogel: Bei Büroarbeitsplätzen liest die künstliche Stimme im Kopfhörer den Inhalt der Webseite vor. Alexander Vogel hat den Website der Firma "Inducare", für die er arbeitet, auf Blindentauglichkeit überprüft: Alles OK.
Foto Braillezeile: 5.000 bis 12.000 Euro kostet je nach Ausführung eine elektronische Braille-Zeile, die den Text auf dem Bildschirm mittels elektronisch gesteuerter Stifte in der computergerechten 8-Punkt-Blindenschrift darstellen kann.
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