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von Oliver Gassner
Der Leserbriefstrom ebbt ab, das Leben geht weiter. Verschiedenste Darstellungen dessen, was mit Eva Maria Jäger geschah, liegen auf dem Tisch. Die Gerüchteküche besorgt das übrige. Weder die, die es ohnehin besser wussten noch die Gerüchteköche sollen hier bedient werden. Es soll der Blick auf die allgemeinen Zusammenhänge gerichtet werden, die aus dem Blick geraten sind, und Fragen aufgeworfen werden über das, was die Zukunft sein kann. Zwar aus Anlass dessen was - vor allem öffentlich - gesagt wurde, aber ausdrücklich nicht als Analyse des Einzelfalles oder gar Schuldzuweisung. Dabei spielen nicht nur Fragen der Pädagogik und Psychologie eine Rolle sondern auch solche des Journalismus.
Was ist Mobbing?
Zuerst gilt es zu klären, wovon überhaupt die Rede ist: Mobbing, das englische Wort für "anpöbeln". "Drangsalieren" wäre ein verständlicher Begriff. Definiert ist es als böswillige, länger andauernde Handlungen handgreiflicher oder seelischer Art, die von mehreren anderen auf eine Person gerichtet sind, mit dem Ziel diese "fertig zu machen". Neuere Kommunikationstheorien arbeiten nicht mehr nach dem Schema "Wer hat angefangen?", weil sich gezeigt hat, dass man das nicht objektiv entscheiden kann. Es gibt den "typischen Täter" genauso wie das "typische Opfer" und beide brauchen Hilfe um ihr Verhalten und Denken so zu verändern, dass alle miteinander leben können.
Umfangreiche Programme zur Verhinderung oder zum "Auffangen" von Mobbing sind seit einigen Jahren im Aufbau. Unter den aktuellen Bedingungen des "Schulbetriebs" finden sie vor allem dann statt, wenn einzelne Lehrerinnen und Lehrer sich über das erwartbare Maß hinaus engagieren. Genau dieses Engagement allerdings fällt vielen schwer, wenn sie durch die Gesellschaft immer wieder - wie ja auch in diesem Fall - öffentlich als Versagende an den Pranger gestellt werden und in ihrer täglichen Arbeit den Eindruck haben müssen, dass weder die Eltern noch die Politik ihr Engagement honorieren. Und nicht zuletzt: Schulleiter sehen lieber öffentlichkeitswirksame Ausstellungen, Theaterstücke und Musikabende. Das stellt eine Schule positiver dar als ein Programm gegen Drogen, Mobbing und Gewalt oder für mehr Selbstbewusstsein und wird mit den entsprechenden "Bonbons" für den engagierten Kollegen belohnt.
Geschulten Lehrern fällt Mobbing durchaus auf und auch im vorliegenden Fall war es offenbar so, dass die Lage dem Kollegium wie der Schulleitung bekannt war und dass es intensive Bemühungen um Hilfe gab. Die Leserbriefschreiber, die von Verschweigen und Wegschauen reden, verwechseln das, was in Zeitungsartikel gehört, mit dem, was passiert. Aber dazu später.
Psychologie an Schulen
Gewisse Rahmenbedingungen sollten klar sein: Jede Schule hat einen Beratungslehrer mit dem Schülerinnen und Schüler auch während der Unterrichtszeit vertrauliche Einzelgespräche führen können und der Eltern ebenfalls zur Verfügung steht. Dieser Lehrer ist über eine Fortbildung psychologisch geschult und deckt von der Lernberatung über erste Diagnose von Lernstörungen oder Hochbegabung und Konfliktberatung das Spektrum bis zur Bildungsberatung - also zum Beispiel Tipps für einen Schulwechsel - ab. Der Beratungslehrer ist aber weder ausgebildeter Psychologe noch Therapeut und hat im Wesentlichen die Funktion, Schüler und Eltern an Fachstellen weiterzuvermitteln. Also zum Beispiel in eine Therapie. Kinder- und Jugendtherapeuten im Landkreis haben allerdings augenblicklich eine Wartezeit von etwa zwei Jahren.
Der "normale" Lehrer hat durchaus auch psychologische Fachkenntnisse, die bei der Ausbildung oder bei Fortbildungen erworben wurden. Die haben allerdings ihren Schwerpunkt vor allem bei der Kommunikations-, Lern- und der Motivationspsychologie und so sie darüber hinausreichen sind sie meist gerade ausreichend um festzustellen, dass ein Problem vorliegt, das der Aufmerksamkeit des Beratungslehrers oder eben eines Profis bedarf.
In Realschulen und Gymnasien hat ein Lehrer an einem durchschnittlichen Schultag nicht selten über 125 Schüler vor sich, ist eingezwängt in ein Korsett aus 45-Minuten-Gong, dem nächsten Klassenarbeitstermin, dem Stoff- und dem Lehrplan. Eine Pflege der Psyche von Kindern, Kindern mit großen Problemen gar, ist unter solchen Bedingungen kaum möglich - und von denen, die die Schule nur als notwendiges Übel und Notenverteilanstalt betrachten auch nicht erwünscht. Gerne würden Lehrer deutlich mehr tun als nur Wissen vermitteln: Weil sie bilden und erziehen wollen haben die meisten diesen Beruf ergriffen. Im Gefolge von PISA sollen sie nun aber lieber dafür sorgen, dass die Schüler bei bundesweit standardisierten Tests zu Hauptfächern gut abschneiden. Ob das die Schule menschlicher macht?
Jugendselbstmorde
Otto Schily hat nach dem Amoklauf in Erfurt darauf hingewiesen, dass die Länder, die bei der PISA-Studie sehr gut abgeschnitten haben, auch ganz weit oben in der Selbstmordstatistik bei Schülern stehen. Das hatte einige Monate zuvor bei der Veröffentlichung der Daten sich niemand laut zu sagen getraut. Und Schilys Einwurf ist heute auch wieder vergessen. In Deutschland ist bei Jugendlichen unter 25 Selbstmord die zweithäufigste Todesursache nach dem Unfalltod. Rund 800 Jugendsuizide pro Jahr machen etwa 6% der Selbsttötungen in Deutschland aus. Die Schule ist nicht immer "Schuld", wenn eine psychische Situation ausweglos wird. Laut Statistik sind Schulprobleme hierzulande sogar unter den seltensten Suizidgründen. Aber die Schule ist auch kein Staat im Staate: Schulen sind Teil unserer Gesellschaft und können nur so gut und so schlecht wie ihr Umfeld sein. Wer von der Schule verlangt auszugleichen, was Eltern, Medien und Werbung mit Kindern machen (oder nicht machen), der sollte wissen, dass er nicht nur eine andere Schule will, sondern auch andere Eltern, Medien und eine andere Werbung. Kurz: eine andere Gesellschaft.
Schuld und Verantwortung
"Ihre Strafe erhalten", so einer der Leserbriefe, hätten ohnehin schon alle Betroffenen. Das ist ein griffiger aber gefährlicher Satz. Denn die "Gewalt", die bei einem Selbstmord stattfindet ist nicht nur eine gegen die eigene Person sondern auch eine gegen die Umwelt. Gerade auf junge Menschen kann ein Fall wie der vorliegende großen Eindruck machen. Kann eine aufkeimende Verzweiflung nähren oder gar zur Nachahmung animieren: einmal soviel Aufmerksamkeit bekommen, einmal soviel Mitleid erfahren, einmal den Tätern wirklich Schuldgefühle machen.
In dieser Verantwortung sieht sich auch der Journalist: Wie soll er abwägen zwischen dem Recht der Gesellschaft auf Aufklärung, auf schonungslose Wahrheit, der Privatsphäre des Opfers und der Täter und wie viel Zurückhaltung ist zu üben, um keine Nachahmungstaten zu provozieren?
Die Zukunft
Ein Fazit zu ziehen scheint unmöglich. Aber wenn sich die Schule, unterstützt von einer Gesellschaft, die darüber nachdenkt, was ihr wirklich wichtig ist, von der Leistungsmessanstalt und der Ingenieursschmiede hin zu einem Raum entwickeln dürfte, in denen Menschen anderen Menschen ermöglichen, ihre geistigen und sozialen Fähigkeiten für sich und die Gemeinschaft zu entwickeln, dann wird daraus eventuell eine Schule und eine Gesellschaft werden, in der es etwas weniger Materialismus, Egoismus, Leid und Härte gibt, als in der Welt, die wir sehen wenn wir aus dem Fenster blicken.
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