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"Das eine bin ich, das andere sind meine Schriften.", darauf bestand Friedrich Nietzsche und wenn Schriftsteller auftreten, dann lesen sie meist aus ihren Werken während die Person im Hintergrund bleibt. Eine neue Veranstaltungsreihe des Literaturarchivs Marbach soll das beheben: Autorinnen und Autoren lesen nicht aus ihren Büchern sondern sprechen über ihr Leben als Schreibende.
Den Anfang machte die Autorin Mirjam Pressler, die seit über 20 Jahren kritisch-realistische Kinder- und Jugendbücher schreibt. "Bedrängnisse und das wachsende Selbstbewusstsein von Kindern und Jugendlichen" machte Rudi Kienzle in seiner Einleitung als durchgängiges Thema der Autorin aus: 1980 debütierte sie mit dem Roman "Bitterschokolade", in dem es um ein übergewichtiges Mädchen und deren erste Liebe geht, als neustes Buch erschien 2001 "Malka Mai", ein dokumentarischer Roman über ein siebenjähriges jüdisches Mädchen, das von ihren Eltern im Krieg auf der Flucht zurückgelassen wird. Neben einer Reihe Jugendbücher gehören rund 300 Übersetzungen aus dem Niederländischen, Afrikaans und Hebräischen zu den Werken von Mirjam Pressler, darunter die deutsche Übersetzung des Tagebuchs der Anne Frank. 2002 erhielt die Autorin zusammen mit Günter Grass in Leipzig den "Bücherpreis".
Sich selbst zu interpretieren, erklärte Mirjam Pressler, sei wenig sinnvoll, denn der Text habe für sich selbst zu sprechen. Sie habe hier vor, ihren Weg von der Leserin zur Schreibenden nachzuzeichnen. Lesen lernte sie noch vor dem Schulanfang aus den Fibeln der älteren Kinder in der Pflegefamilie, in der sie aufwuchs, und musste ihrer Pflegemutter die Zeitung vorlesen.
Das eigene Lesen wurde zum Fluchtraum vor der alltäglichen Dumpfheit und der familiären Gewalt. Was man tut und was böse ist, was ein Gespräch ist, was man sich erhoffen kann: All das habe sie aus Büchern erfahren. Den Dialekt, der bei ihr persönlich für Dummheit und Brutalität steht, hat sie sich früh abtrainiert. Sie wollte so sprechen wie die Menschen in den Büchern, die sie verschlang. Aus Büchermangel las sie die Bücherregale der Nachbarskinder leer, putzte als Kind in der Leihbücherei des Ortes um im Tausch dafür Bücher zu erhalten. Sie las heimlich, denn es drohte Strafe: Eingebunden als Schulbuch, im Versteck auf dem Heuboden, unter der Bettdecke. "Angeboren ist uns nur der Überlebenswille, alles andere, was das Leben schön macht, müssen wir auf andere Weise erfahren.", stellt Mirjam Pressler fest. Und da ihr soziales Umfeld solche schönen Erfahrungen nicht hergab, saugte sie diese aus ihrer Lektüre auf. Doch eins fehlte ihr: "Kinder wie ich kamen in den Büchern nicht vor. Sie halfen mir nicht, meine Welt zu verstehen." Und das korrigierte sie später mit dem eigenen Schreiben.
Das Lesen ging bei Mirjam Pressler mit dem Erfinden von Geschichten einher. Um die für Pflegekinder typischen Einschlafprobleme zu bekämpfen erzählte sie sich selbst Geschichten, eine Angewohnheit, die bald auch ihren schwer erträglichen Alltag bestimmte. An Schreiben dachte sie nicht im Traum: "Selbst zu schreiben, das war mir so fremd wie eine freundliche Oma, die ein Geschenk aus dem Strickkorb holt."
Erst mit 39 kam sie nach einem Lebensabschnitt als Kunsthistorikerin und Malerin zum Schreiben. Und warum? Zuerst habe sie immer gesagt, dass sie Geschichten für Kinder im Alter ihrer eigenen Kinder schreibe, dann, dass sie die Bücher schreibe, die sie selbst gern als Kinder gelesen hätte: realistische Bücher, die den Kindern helfen, ihre Welt zu verstehen. "Aber in Wirklichkeit habe ich angefangen zu schreiben, weil ich als alleinerziehende Mutter Geld brauchte." Sie habe Glück gehabt: Vor allem der Jugendbuchpreis der Stadt Oldenburg und ihre Lektoren haben ihren Erfolg befördert.
Ohne Worte könne sie weder denken noch fühlen, denn all ihr Denken und Fühlen entspringe aus dem Lesen - und es mündet in das Schreiben, das so zur Existenzform und lebensnotwendig wird. Leser seien für sie hautsächlich eine anonyme Gruppe, außerdem bestehe sie auf der Distanz der Autorin, die sich nicht gänzlich preisgibt. Mirjam Presslers Texte entstehen vor allem assoziativ und werden erst dann überarbeitet: "Es gibt am Anfang kein Konzept, keinen Plan." Das Assoziieren ist Mirjam Pressler wichtig und für sie markiert es auch die Grenze zwischen Literatur und Film: Während das Wort in den Lesenden verschiedene Ideen auslöst ist ein Bild einengend und die laufenden Bilder von Film und Fernsehen hemmen das Weiterspinnen eigener Geschichten.
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