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Von Oliver Gassner
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannten in Deutschland die Synagogen, die Fensterscheiben jüdischer Geschäfte wurden eingeworfen - auch in Stuttgart. Die Täter waren Mitglieder von SA und NSDAP. Die Geschäfte wurden häufig von der Hitlerjugend und dem Mob geplündert. Heute nennt man die Übergriffe das "Novemberpogrom", um den verharmlosenden Ausdruck "Reichskristallnacht" der Nazis zu vermeiden.
Zur Erinnerung an diese schreckliche Nacht sind am Samstagnachmittag, trotz Kälte und Regens, mehr als 50 Zuhörer zur Lesung an das Mahnmal für die Opfer des Faschismus gekommen. Bei der gemeinsamen Veranstaltung von Schriftstellerverband, Amnesty International, AnStiftung, Theaterhaus und MUT ergriffen Stuttgarter Theater- und Kulturschaffende mit eigenen und fremden Texten das Wort. Den Anfang machte der Musiker und Sänger Erich Schmeckenbecher mit einem jiddischen Lied, das von Heimatlosigkeit und Sehnsucht handelt.
Der Anwalt Ulrich Cassel plädierte in seiner Rede dafür, den 9. November als deutschen Nationalfeiertag einzusetzen, statt des "blassen Stichtags 3. Oktober". Denkwürdige Ereignisse habe es an diesem Tag viele gegeben. Der 9. November war auch der Tag, an dem 1918 die erste deutsche Republik ausgerufen wurde. Am 9. November 1928 scheiterte der Hitler-Putsch, und 1989 öffnete sich an diesem Tag die Mauer.
Der Regisseur Yaron Goldstein trug das "Lied eines toten Soldaten an seinen Vater" vor, das nach dem Sechstagekrieg 1967 entstand: Ein Soldatentod sei kein Grund zum Stolz, sondern lediglich ein Grund zur Trauer. Ein beeindruckendes Dokument hat der Schauspieler Stephan Moos ausgegraben. Ein jüdischer Freund seines Vaters schrieb seinen Bekannten einen Abschiedsbrief, nachdem er die Nachricht erhalten hatte, dass er sich zur Deportation melden soll: "Endlich hat das quälende Warten ein Ende. Getrost gehe ich in eine neue Zukunft. Seid unbesorgt." Es war sein letztes Lebenszeichen.
Der Gewerkschafter Niels Clasen erinnerte daran, dass Zivilcourage damals das Leben kosten konnte: So hätten die Frauen von Waiblingen am 9. April 1945 in einer Demonstration auf dem Platz vor dem Rathaus die kampflose Übergabe der Stadt an die einrückenden Alliierten gefordert. Ein SS-Mann hätte beinahe auf die Frauen und Kinder geschossen.
Doch nicht nur um Geschichte ging es bei der Lesung, auch die alltägliche Gewalt gegen Ausländer heute war Thema. Die Verzweiflung einer "schwarzen Deutschen" darüber, dass sich nichts je ändern werde, schilderte der Text, den Shala Blum ausgewählt hatte. Karin Bauer von Amnesty International stellte den Fall eines ägyptischen Rechtsanwalts vor, der ohne Begründung seit elf Jahren in Haft gehalten wird. Die ägyptische Regierung behaupte, der Mann existiere gar nicht, obwohl ihre eigenen Gerichte seine Freilassung anordnen. Am Ende der Lesung stand das Gedicht "Träume" von Günther Eich, das mit den Worten schließt: "Seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt."
Die Lesung ist Teil eines umfangreichen Veranstaltungsprogramms "Gewalt ist kein Weg - Initiative für Toleranz und Zivilcourage". Es schloss sich eine vom Stadtjugendring organisierte Stadtrundfahrt zu "Leben und Leiden der Stuttgarter Juden" an. Enttäuscht war Organisator Peter Grohmann von der Haltung des Ordnungsamtes: "Man hat uns verboten, die Lautsprecher anzuschalten, wenn weniger als 50 Leute kommen, obwohl gleich nebenan die Schlittschuhbahn pausenlos Musik dudelt."
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