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Das Reiher-Orakel

Ulrike Längles neuer Roman "Seesucht"

Anna Katharina Matt ist seesüchtig. Jeden Abend und am Wochenende sowieso fährt sie auf den Schiffen der deutschen, östereichischen und schweizerischen Bodenseeflotte. Ermöglicht wird dieses Laster durch eine "Flotten Saison-Card", die ihr der ebenfalls seesüchtige und mit einem bezeichnenden Namen ausgestattete Holländer Marinus Zeemann verehrt hat. Und so machen sich die beiden jeden Abend vom Bregenzer Hafen aus auf den Weg. Fast jeden Abend, denn Marinus Zeemann hat die unangenehme Eigenschaft, gelegentlich ohne Erklärung für einige Zeit zu verschwinden. Angeblich ist er Archivar eines niederländischen Margarineherstellers, aber er interessiert sich auffällig für die Zollkontrollen auf dem See. Ist er etwa Industriespion? Oder gar Heroinschmuggler, wie die Figuren in einem seiner Bodensee-Romane? Denn Autor ist er gewiss und das hat er mit Anna Katharina Matt gemein.

Musikalische Konstruktionen

Ulrike Längle, die Bregenzer Autorin, spielt in ihren Roman "Seesucht" ein kompliziertes Spiel: In eine Reihe von Schilderungen der Bootsausflüge flicht sie ihre Erzählstränge. Der Text ist weniger eine Abfolge von Handlungen als eine Komposition, bei der in der täglichen Schiffs-Routine die selben Gegenstände und Motive immer wieder vorkommen. Auf die Variationen in der Melodie gilt es also zu lauschen.

Beziehungskisten und Orakel

Da ist die Erzählung von der behutsamen Annäherung der beiden Bodensee-Schriftsteller. Ein vorsichtiges Abtasten, ein auf Distanz bleiben. Intimität und Offenheit findet nur in den E-Mails statt, die Katharina von Zeemann erhält und in denen er immer in dritter Person von sich spricht. Paradox ist, dass er in den Netz-Nachrichten mehr von sich preisgibt, als wenn sie sich gegenüber sitzen. Hier deutet er am ehesten ein romantisches Interesse an Anna Katharina an. Und macht das gleich wieder zunichte indem er Ausflüge mit einer anderen Frau schildert. Versucht Marinus Anna eifersüchtig zu machen? Hat er Angst vor der eigenen Courage? Anna misstraut Zeemann, ständig erfindet sie Gangstergeschichten passend zu seinen seltsamen Verhaltensweisen. Kann man den Geständnissen in seinen E-Mails trauen? Oder sind sie ebenfalls nur erlogenes Fabulieren? Und dann: Immer wieder Reiher. Sie sind für Anna Katharina die Urvögel des Sees, die Schwäne wurden erst im 19. Jahrhundert angesiedelt. Welcher Reiher auf welcher Seezeichen-Nummer sitzt, daraus orakeln Anna und Marinus - wie schon die alten Griechen - Glück oder Wehe.

Soziologie des Events

Viel Platz nehmen die Touristenanekdoten ein, Familienszenen, Dialektstudien, eine Fatima-Schiffs-Prozession, das Rockkonzert in Konstanz, die "Rundum Regatta", Turnerfeste, Nikolausfahrten, Prozessionen, Apfel-, Dessert- und Opernschiffe, die Wettfahrt um das "Blaue Band". Dazwischen die beiden Hautpersonen mit ihrer Lust am Austüfteln von komplexen Schiffahrtsrouten, mit ihren Marotten wie der "Rattenstatistik", denn "Ratten" nennen sie die an den Häfen aussteigenden Schiffspassagiere. Wenn sich dann der Anschlag vom 11.9.2001 und der Amoklauf im Rathaus von Zug in diese Kette einreihen, wenn die lang ersehnte Regatta um das "Blaue Band" im Nebel versinkt, dann zerbricht die konstruierte "Heile Welt am See" und der Text zeigt herbstlich-apokalyptische Untertöne.

Bücher im Buch

"Seesucht" enthält auch Inhaltsangaben der Romane der beiden Hauptfiguren: Zeemanns Buch von den Schiffsunglücken auf dem Bodensee beginnt mit einer Liebesgeschichte zwischen einer Frau und einem Reichenauer Mönch. Die Frau schleicht sich als Mann verkleidet ins Kloster und geht bei einem Sturm zusammen mit dem Geliebten unter - selbstverständlich nicht ohne zu beichten. Ein weiterer Roman handelt von einem Pärchen, das seine gemeinsame Zukunft durch den Schmuggel von Heroin in Weißwürsten zu finanzieren sucht. Anna Katharina Matt schreibt auch gerade ein Buch über den See, "Seesucht" heißt es, und protokolliert die gemeinsamen Fahrten.

Wahrnehmung und Wahrheit

Dieser Schwebezustand zwischen nahezu dokumentarischem Realismus und den Einbrüchen der Phantasie scheint der Knackpunkt des Romans zu sein: Die beiden Schriftsteller sind unfähig einen Bezug zur Realität herzustellen, der nicht mit dem Schreiben verbunden ist. Ihnen ist alles Material für Erzählung, ihr Blick auf den See und sein Ufer ist davon bestimmt, dass der Blick sich später in Zeilen auf Papier zu verwandeln hat. So wird der Text eine Studie zur Weltwahrnehmung von Schreibenden. "Ich schreibe das erste Mal einen Roman über die Gegend in der ich lebe.", erklärt Ulrike Längle. "Und es ist unglaublich, wie sich dadurch meine Wahrnehmung meiner Umgebung verändert hat. Man sieht plötzlich Dinge, die man sonst nie bemerkt hätte."

Ulrike Längle: "Seesucht". Roman. Eggingen: Edition Isele, 2002. 14 EUR. ISBN: 3-86142-253-0


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