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Jede Menge Jägermeister

1,7 Promille beim Bluttest. Wann wurde getrunken - vor oder nach der Fahrt?

Herr K. ist 70 Jahre alt, Rentner, war Mathematiklehrer, ist rüstig und braun gebrannt und stammt aus Polen. Er möchte sich zur Sache äußern, aber einen Anwalt hat er nicht dabei. Der Referendar Alexander Seitz von der Staatsanwaltschaft Heilbronn verliest die Anklage: K. soll am 21 April 2002 und halb elf Uhr nachts mit seinem Mitsubishi Colt schwer alkoholisiert auf der Straße zwischen Kleinglattbach und Vaihingen unterwegs gewesen sein. Als man ihm eine Stunde später eine Blutprobe abnahm, wurden 1,75 Promille gemessen.

"Nie in meinem Leben bin ich unter Alkohol Auto gefahren. Das ist alles ein großes Missverständnis." Seine auffällige und langsame Fahrweise erklärt Herr K. mit einem Schaden am Wagen: Wie er später festgestellt habe, sei einer der Zylinder wegen einer verrußten Zündkerze außer Betrieb gewesen, deswegen habe er nur langsam fahren können. Da er einen Fehler in der Automatik vermutet habe, habe er zunächst versucht durch Anhalten oder Rückwärtsfahren den Fehler zu beheben. Den Schaden am Auto hat er mit Tipps von seinem Sohn später selbst behoben.

Zu Hause sei er so genervt und müde gewesen, dass er sich erst mal etwas eingeschenkt habe, so erkläre sich auch der Blutalkohol. Richter Hiller bohrt nach: "Was haben sie denn getrunken?" "Jägermeister." "Und wie viel?" "Zwei solche Gläser.", der Angeklagte deutet die Größe eines Wasserglases an. "Etwa 350 bis 400 Gramm." "Eine halbe Flasche Jägermeister? Und in welcher Zeit?", da heben sich die Augenbrauen des Richters. "Etwa 15 Minuten. Ich war müde und gestresst. Da trinke ich manchmal was." Der Richter überlegt, sieht zu Seite, dann zum Angeklagten: "Würden Sie sagen, ... dass Sie ein Alkoholproblem haben?" "Ich? Nein. Ich trinke fast nie."

Kurz nach seinem Schlaftrunk seien dann vier Polizisten in zwei Polizeiautos aufgetaucht. Man habe ihn gebeten herunter zu kommen und zuerst gefragt: "Haben Sie ein Messer?" "Warum sollte ich ein Messer haben?", wundert sich der pensionierte Lehrer. Er habe sofort gesagt, dass er gerade Alkohol getrunken habe. Der Richter wundert sich. Wenn ein Fahrer so etwas behaupte, dann würden normalerweise zwei Blutproben in zeitlichem Abstand gemacht. Wie das genau war, hätte einer der beamten klären können, aber der Polizist, der als Zeuge zur Verfügung stehen sollte, ist heute nicht vor Gericht erschienen, er hätte aus Tauberbischhofsheim anreisen müssen und hat den Termin verschwitzt.

Der Zeuge Heiner W. (Name geändert) hatte nicht den Eindruck, dass da jemand einen Motorschaden hat. Er sei zwei Kilometer hinter dem Auto hergefahren und habe sich nicht getraut zu überholen: "Der ist auf seiner Fahrbahnseite Schlangenlinien gefahren. Zuerst dachte ich der fummelt nur am Autoradio oder ihm ist eine Zigarette runtergefallen, aber dann war mir klar: Da sitzt jemand am Steuer der nicht mehr in der Lage ist, ein Auto zu fahren."

Die Deutschkenntnisse der 71-jährigen Frau von Herrn K. reichen gerade aus um zu verstehen, dass sie nicht aussagen muss. Sie möchte aber. Sie sei mit ihrem Mann unterwegs gewesen und das Auto sei kaputt gewesen. "Sie waren dabei?", wundert sich der Richter, denn davon war bisher nicht die Rede gewesen. Der Staatsanwalt zieht die Augenbrauen hoch und über das Gesicht ihres Mannes huscht Verwunderung. Auch Zeuge W. hatte lediglich eine Person im Auto vermutet, war sich aber nicht sicher. Frau K weiß auch genau, wie viel ihr Mann an dem Abend noch getrunken hat, allerdings habe er das innerhalb einer Dreiviertelstunde getan. "Ihr Mann sagt, es waren 15 Minuten." "Nein. Länger." K. schüttelt den Kopf. Das Deutsch von Frau K. ist gebrochen, die Sätze aber kommen flüssig, ein bisschen wie auswendig gelernt. Gelegentlich ist sie versucht, zu ihrer Nachbarin im Publikum zu schielen, die sie als Übersetzerin mitgebracht hatte. "Ihre Nachbarin hat hier keine Funktion, wenn Sie mich nicht verstehen, dann müssen wir vertragen und einen vereidigten Übersetzer für Polnisch besorgen.", weist sie der Richter zurecht.

Am Schluss stellt der Richter den Angeklagten vor eine Alternative: Entweder er akzeptiert den Strafbefehl über 1600 Euro, die er auch in Raten abstottern kann, oder die Sitzung muss vertagt werde: "Um zu überprüfen, ob Sie wegen des Nachtrinkens die Wahrheit gesagt haben muss ich einen Sachverständigen einschalten, der Ihre Blutprobe auf Begleitstoffe analysiert. Der kann dann genau sagen, wann Sie wie viel getrunken haben und was es war. Der Sachverständige muss dann auch hier aussagen, das kostet insgesamt etwa 1100 Euro. Das müssen Sie bezahlen, falls Sie schuldig sind." "Ich habe nicht so viel Geld.", erklärt der Angeklagte und akzeptiert lieber die Strafe und die Übernahme der Gerichtskosten.

Was nicht viele Angeklagte wissen: Rechtsreferendare und Juristen in der Richterausbildung machen sogenannte "Trinktests". Unter "Polizeiaufsicht" experimentieren sie, wie viel Promille der Alkomat nach wie viel Alkohol anzeigt. Sie wissen: Eine Marke von 0,8 Promille ist relativ schnell erreicht, aber Werte über 1 Promille entstehen meist durch Hochprozentiges: "Nur mit Bier kommt man nicht auf solche Werte.", erklärt Richter Hiller nach der Verhandlung. Und auch Referendar Seit bestätigt: "Einer meiner Kollegen hatte 12 Wodka, erst dann ging der Blutalkohol über 1,7 Promille."


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