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Interkulturelle Sprachspiele -- Dichten zwischen den Kulturen

Arabische und internationale Lyrik bei den 7. Frauenfelder Lyriktagen im "Eisenwerk"

Von Oliver Gassner

Alle zwei Jahre und in diesem Jahr zum siebten Mal finden im schweizerischen Frauenfeld die "Lyriktage" statt, die von der Konstanzer Buchhändlerin Elke Bergmann, dem Schweizer Lyriker und Verleger Beat Brechbühl und dem Lyriker Jochen Kelter organisiert werden. Finanziell unterstützt wird das Ereignis unter anderem von der Kulturstiftung des Kantons Thurgau und der schweizerischen Bundeskulturstiftung "Pro Helvetia". An zwei Tagen bieten Autorinnen und Autoren Workshops für Jugendliche und Erwachsene an, bei denen viel Raum für Fragen, Erklärungen und intensive Blicke hinter die Kulisse von Gedichten und Gedichtemachen ist. Die Abende gehören den Lesungen.

Einen Schwerpunkt bildete diesmal die arabische gesungene und gesprochene Lyrik der Gegenwart. Den musikalischen Part hatte die mit israelischem Pass reisende Palästinenserin Kamilya Jubran mit ihrer Stimme und dem lautenähnlichen Oud. Die inzwischen in Paris lebende Künstlerin arbeitet sowohl mit klassischen arabischen Gedichtformen und Musikstilen wie auch mit emotional intensiven, musikalisch modernen und formal freien Verarbeitungen der Erfahrungen in den gewalterschütterten und autoritären Gesellschaften der arabischen Welt.

Stark vom Dialog mit Europa geprägt sind sowohl der 1930 geborene Libanese Fuad Rifka, der in Beirut und Tübingen Philosophie studierte und als arabischer Christ die Bibel in modernes Arabisch übersetzte, als auch der nach Paris ausgewanderte Marokkaner Abdellatif Laâbi, der in seiner Heimat wegen der von ihm herausgegebenen Literaturzeitschrift gefoltert und acht Jahre inhaftiert worden war. Der 61jährige Laâbi konnte wegen plötzlicher Krankheit nicht anreisen und seine Gedichte las im französischen Original und in deutscher Übersetzung Jochen Kelter. Die Bildwelten der beiden Autoren speisen sich aus dem mediterranen Kulturschatz, der auch die Basis europäischer Bildung darstellt, und zeigen so die gemeinsamen Wurzeln auf.

Die jüngere Generation arabischer Literatur vertrat die 35jährige Imân Mersâl aus Ägypten, deren Gedichte das neue Selbstbild der Frau in der arabischen Gesellschaft und die Probleme der Selbstbehauptung zum Thema haben. Politische Botschaften fügen sich dabei wie selbstverständlich und ohne Getöse in die Gedichte ein. "Ich persönliche brauche keine Stimme. / Achtet auf den Wohlstand! / Macht euch keine Gedanken über die Zukunft! / Denn ihr habt noch nicht einmal die Freiheit zu sterben!" In den Texten der auch feministisch-politisch aktiven Dichterin begegnen einem eher Zitate von Dostojewski oder eine französische Prinzessin als Versatzstücke aus Tausendundeiner Nacht.

Doch auch sonst standen die Lyriktage im Zeichen des interkulturellen Dialogs. Die Initialrede zur Lage des Gedichts hielt eine Wandererin zwischen den Kulturen: Yoko Tawada, geboren 1960 in Tokyo, promovierte in der Schweiz und lebt seit fast 20 Jahren in Hamburg. Ihr "Spaziergang über eine poetische Fläche", so der Titel der Rede, führt durch einen japanischen Garten des 17. Jahrhunderts. So wie Gärten haben auch Gedichte kein Ziel, außer dem, einen Freiraum zu schaffen. Eine Botschaft ist weder direkt noch indirekt in einem Gedicht enthalten; sie entsteht eher auf magische Weise und auch wenn der Dichtende eine bestimmte Vorstellung von dem hat, was er sich für seinen Text wünscht, so steht am Ende immer eine Überraschung.

In Yoko Tawadas Workshop zeigte sich dann, zu welcher Art von Texten solche Überlegungen führen: Jede Sprachlogik wird zerbrochen, das Sprachspiel übernimmt die Regie. Ihre Texte entstehen heute in einem Dialog zwischen japanischem Original und deutscher Übersetzung. Bei der Übersetzung wird im Original korrigiert, was noch nicht perfekt ist und nur im Hin und Her zwischen den sich gegenseitig beeinflussenden Textvarianten entstehen die Sprachsaltos, die die Fans von Yoko Tawada so begeistern. "ein wort / direkt auf das trommelfell geschrieben / die trommel fällt / lautlos / stimmhaft / ein wort / ein ort".

Dass auch das Übersetzen zwischen zwei so nahe verwandten Sprachen wie deutsch und niederländisch äußerst schwierig sein kann, vermittelte Judith Herzberg in ihrem Workshop. Sie wurde 1934 in Amsterdam geboren und überlebte die deutsche Besatzung versteckt bei verschiedenen Familien. Ihre Eltern entkamen dem Tod im Lager Bergen-Belsen. Heute lebt sie abwechselnd in Holland und in Israel. So überlegt ist Judith Herzbergs Arbeit mit Sprache, dass nicht selten sogar die Worte fehlen um zu erklären, warum eine deutsche Übersetzung die ganzen Nebenbedeutungen des niederländischen Ausdrucks nicht trifft. Judith Herzberg wüscht sich von Lyrik-Übersetzern vor allem etwas mehr Mut zum originellen Ausdruck nahe der Ursprungssprache. "Wenn ich ‚ur-früher' schreibe, was es im niederländischen so auch nicht gibt, und damit so etwas meine wie ‚zu Urzeiten', dann ist das mit ‚ganz früher' nicht gut übersetzt.", erklärt sie. Sprachkritik kennzeichnet viele ihrer Gedichte. Kritik an dem Satz "Elchen sterben aus Heimweh... nach den unbegrenzten Flächen des Nordens." aus einem Zeitungsartikel oder an den bombastischen aber abgegriffenen Metaphern, zu denen der Holocaust manche Dichter inspiriert.

Ironische Erzählgedichte vor irischem Hintergrund präsentierte der in Princeton lehrende Paul Muldoon. Pierre Imhasly aus dem Wallis montierte deutsche, spanische und französische Sprachsplitter zu episch breiten Panoramen. Tomas Venclova, der sein Heimatland Litauen nach einem Konflikt mit der Kommunistischen Partei 1977 verlassen musste und heute in Yale unterrichtet, ist in seinem Dichten vor allem Rhythmus und Reim verpflichtet. Postkommunistische Erfahrung und europäische Geschichte sind zwei seiner Themen.

Siehe auch die Fotostrecke zum Artikel.

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