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"Sie dürfen auch ein stehendes Fahrzeug nicht rammen"

Lehrstück im Verkehrsstrafrecht - Auto rammt Roller

(go) Bekannt ist der Satz: "Wer auffährt hat Schuld." Besser müsste es wohl heißen: "Wer auffährt und das hätte vermeiden können, hat Schuld." Weniger bekannt ist die Tatsache, dass man ein Gericht ordentlich reizen kann, wenn man sich uneinsichtig zeigt.

Ein Lehrstück zum Thema Unfallstrafrecht präsentierten ein 28-jähriger Kaufmann aus dem bayrischen Mammendorf und sein Anwalt vor dem Amtsgericht Vaihingen. Eine fahrlässige Körperverletzung steht vor der Strafkammer zur Verhandlung, gegen den Strafbefehl über 18 000 Mark hat der Angeklagte Einspruch eingelegt.

Was war passiert? Ein 43-jähriger Sersheimer war am 30. August 2000 auf seinem 50er-Motorroller auf dem Heimweg von der Arbeit. Er stand an der Kreuzung zwischen Bietigheimer Straße und Schulgartenstraße um links abzubiegen, hatte sich aber wegen Gegenverkehrs und eines Vorbaus rechts eingeordnet, blinkte aber links.

"Das nächste was ich weiß, ist, dass der Roller plötzlich zwischen meinen Beinen durchgeschoben wurde und ich nach hinten kippte." Der Sersheimer zieht sich Prellungen zwischen den Beinen und am Rücken zu und einen komplizierten Bruch an der rechten Hand, der auch heute noch nicht ausgeheilt ist: Der Ringfinger bleibt schief. Die Versicherung des Schädigers hat bereits den Totalschaden des 14 Tage alten Rollers beglichen und einen Vorschuss von 14 000 Mark auf das zu erwartende Schmerzensgeld gezahlt. 32 000 Mark stehen nun auf der Wunschliste des Sersheimers.

Das Gericht klärt mit Hilfe eines Polizeiobermeisters und eines DEKRA-Sachverständigen für Unfallrekonstruktion die offenen Fragen: Stand der Roller oder fuhr er? Jedenfalls langsamer als 30. Hat der Roller eine Bremsspur hinterlassen? Nein. War einer der Beteiligten schneller als die erlaubten 30? Eher nicht. Hat eventuell die Sonne geblendet? Nein.

Es zeigt sich, dass der Sersheimer ohne Führerschein mit dem Roller unterwegs war und nie einen Führerschein besessen hat. Auch hat er sich offenbar falsch eingeordnet. Im Zivilprozess spielt Mitschuld eine Rolle, aber für den Strafprozess ist das nur beim Strafmaß erheblich. Die Verurteilung hat nur das Verschulden des Angeklagten und die Folgen seines Tuns zu betrachten.

Der Verteidiger verheddert sich mehrmals. Nicht immer verstehen Richter, Staatsanwalt, Sachverständiger oder gar die Zuschauer, was der löwenmähnige Junganwalt will. Der rauft sich die Haare und versucht die dritte Formulierung der Frage. Mal greift er den Sachverständigen an, weil der nicht das liefert, was der Anwalt gerne hätte, mal spielt er den erfahrenen Verkehrsrechtler, mal den Unerfahrenen: "Helfen Sie mir, wie kann man so etwas lösen?", bettelt er den Richter an. Der weist ihn nur zurecht, dass der Sachverständige seit über 30 Jahren zur vollsten Zufriedenheit vieler Gerichte in der Region arbeite und nötigt ihm eine Entschuldigung ab.

Irgendwann wird es dem Staatsanwalt zu bunt und er poltert los: "Wenn Sie Ihren Einspruch zurückziehen wollen, dann jetzt. Wenn der Verursacher hier uneinsichtig ist, dann muss man darüber nachdenken, ob nicht ein Fahrverbot ihn zur Einsicht bringen kann." Anwalt und Angeklagter sind geschockt: Der Bayer benötigt seinen Führerschein, weil er beruflich viel unterwegs ist. Der Anwalt versucht eine wilde letzte Argumentation: Sein Mandant sei unschuldig, da er die Absicht des Geschädigten anzuhalten, nicht bemerkt habe. Hätte er dies bemerkt, hätte er ihn ja nicht gerammt. Der Richter belehrt den Anwalt, dass das unerheblich sei: Egal was der Vordermann tut, der Hintermann hat so zu fahren, das Reaktionszeit, Brems- und Anhalteweg ausreichen um eine Kollision zu verhindern. Eine geringe Schuld mit großen Folgen sei genauso zu bewerten, wie eine große Verfehlung mit geringen Folgen.

Die Angst vor dem Fahrverbot bringt den Angeklagten zum einlenken: Er akzeptiert den Strafbefehl, fühlt sich aber ungerecht behandelt. Von den 2500 Mark, die er verdient, muss er aus einem früheren Verkehrsunfall schon 350 Mark im Monat abstottern. 10 000 Mark Schulden hat er da noch. 3 500 Mark Schaden muss er seinem Arbeitgeber, dem das Auto gehört, noch zahlen. "Das kann doch der kleine Mann gar nicht bezahlen, was einem abnehmt's. Ich wohn ja schon zu Hause, weil mir das Geld nicht langt." Das Gericht zeigt sich ungerührt und deutet an, er möge froh sein, dass man ihm den Führerschein nicht abnehme und eine deutlich höhere Geldstrafe aufbrumme.

Auf dem Weg nach draußen giften sich Anwalt und Sachverständiger weiter an: "Halten Sie uns Sachverständige nicht für dümmer, als wir sind." "Das ist eine Beleidigung. Ich habe noch nie ein schlechteres Gutachten gehört als heute." Das ist eine Beleidigung? Oha. Ein schlechter Verlierer. Gute Heimfahrt noch.

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